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Interview mit einem Experten: Wie lebt es sich besser mit einem an Alzheimer erkrankten Angehörigen?

Veröffentlicht am 21.09.2021 • Von Andrea Barcia

Anlässlich des Welt-Alzheimer-Tages am 21. September schlagen wir Ihnen ein Interview mit Benoît Michel vor, Psychologe und Autor des Buches „Bien vivre auprès d'un proche atteint de la maladie d'Alzheimer “. Er hat sich bereiterklärt, unsere Fragen dazu zu beantworten, wie man mit der Alzheimer-Krankheit besser zurechtkommen kann - als Patient sowie als Pflegender!

Interview mit einem Experten: Wie lebt es sich besser mit einem an Alzheimer erkrankten Angehörigen?

Guten Tag Benoît Michel, danke, dass Sie sich bereit erklärt haben, unsere Fragen zu beantworten.

Könnten Sie zunächst über Ihren Hintergrund sprechen? Was hat Sie dazu bewogen, die Alzheimer-Krankheit zu studieren/ mit ihr zu arbeiten?

Ich habe an der Universität Aix-Marseille klinische Psychologie studiert, mit einer Spezialisierung auf Neuropsychologie. Während meines Studiums entdeckte ich das Gebiet der Gerontologie sowie neurodegenerative Erkrankungen wie die Alzheimer-Krankheit. Ich hatte das Glück, Faustine Viailly kennenzulernen, eine auf Gerontologie spezialisierte Psychologin, die mich in der sehr speziellen Klinik für ältere Menschen ausbildete und mich dazu anregte, weiter mit diesen zu arbeiten.

Seitdem arbeite ich hauptsächlich in Seniorenheimen sowie in der Abteilung für Erwachsenenpsychiatrie der Universitätskliniken von Marseille (AP-HM).

Welche Form der geistigen oder psychologischen Auswirkungen hat die Alzheimer-Krankheit auf den Patienten?

Vereinfacht gesagt zerstört die Alzheimer-Krankheit schrittweise die Neuronen des Gehirns, was zu einer Störung der sogenannten kognitiven Funktionen führt: in erster Linie das Gedächtnis, aber auch die Sprache, etc. In der Folge treten Symptome auf, die immer deutlicher und stärker werden und immer behindernder (Vergesslichkeit, Schwierigkeiten beim Erkennen von Personen, Orten, der Verwendung von Gegenständen, Verwendung von Wörtern anstelle von anderen, Orientierungslosigkeit, etc.).

All dies ist natürlich sehr behindernd, aber ich glaube, dass die wahren Auswirkungen der Erkrankung sich auf einer anderen Ebene zeigen: Die Alzheimer-Krankheit ist eine Krankheit der Verbindung, der Verbindung der erkrankten Person zu ihrer Umgebung, ihrer Familie, ihren Freunden oder gar zur Gesellschaft. Die Symptome werden diese Verbindungen stören, indem sie all diese offensichtlichen Dinge beeinträchtigen, die unsere zwischenmenschlichen Beziehungen ausmachen: Diskussionen und Projekte, gemeinsame Momente und Erinnerungen, was man vom anderen weiß, von seinen Vorlieben, seinen Charakterzügen, unseren Gewohnheiten gegenüber den anderen, etc.

All das wird entweder durch die Krankheit verhindert („Wie kann man Diskussionen führen? Er vergisst alles sofort, was ich ihm erzähle oder ich verstehe ihn nicht, wenn er spricht“), oder „löscht“ sie aus („Sie erinnert sich oft nicht mehr an alles, was wir früher zusammen gemacht haben“) oder verändert sie („Er hat so etwas früher nie gemacht!“). Und dazu kommt die Abhängigkeit, die auch die Verbindung zu unseren Angehörigen stört („Ich war seine Frau, jetzt bin ich auch seine Krankenschwester“).

Bei Alzheimer sowie verwandten Erkrankungen hat man daher den Eindruck, dass die Person uns nicht mehr erkennt und dass wir auch gleichzeitig Schwierigkeiten haben, sie noch zu erkennen: Unsere gesamte Beziehung zum kranken Angehörigen ist gestört und das ist die eigentliche Auswirkung der Erkrankung.

Glücklicherweise wird man sich dessen bewusst, dass die Krankheit die Beziehung zwar verändert, es aber dennoch weiterhin möglich ist, mit dem Angehörigen eine Verbindung zu behalten, selbst wenn die Krankheit schon sehr weit fortgeschritten ist. Die Symptome erzwingen Veränderungen, Anpassungen, das stimmt, und die Beziehung ist sicherlich anders, aber sie bleibt immer noch möglich! Das ist eine sehr wichtige Botschaft, die vermittelt werden muss, wie ich finde, weitaus mehr als die Behandlungsmöglichkeiten, um den Krankheitsverlauf zu verlangsamen oder die Symptome zu lindern; auf dieser Beziehung von Betreuer-Betreutem müssen unsere Bemühungen beruhen und sie sind letztendlich am nützlichsten: mehr als zu jedem Preis die kognitiven Fähigkeiten zu behalten, die sowieso abnehmen werden, man sollte eher daran arbeiten, diese Beziehung trotz der Veränderung beizubehalten.

Was sind die Hauptprobleme, mit denen Pflegende konfrontiert werden, wenn sie einen an Alzheimer erkrankten Angehörigen betreuen?

Es gibt verschiedene Arten und sie variieren natürlich stark von Mensch zu Mensch.

Zuerst können Müdigkeit und Erschöpfung genannt werden, die durch die täglichen Aufgaben der Pflegeperson hervorgerufen werden. Darüber hinaus vernachlässigen diese ihre eigene physische und psychische Gesundheit sowie ihr soziales Leben und ihre Freizeitaktivitäten zugunsten dessen, was für den Angehörigen getan werden muss („Ich habe keine Zeit, Radio zu hören, ich muss mich um ihn kümmern!“). Stress, Müdigkeit, Schlaf-, Ess-, Libidoprobleme, soziale Vereinsamung, … alles zusammen in einer Negativ-Spirale. Etwa 1 von 3 Betreuern sterben vor dem kranken Angehörigen, das ist enorm!

Es können auch finanzielle Fragen auftreten, z.B. ob der Betreuer seine Arbeitszeit reduzieren muss, um bei dem Angehörigen bleiben zu können oder wenn bestimmte Kosten für Alltagshelfer oder Geräte hinzukommen.

Und dann geht es um all die Energie, die es benötigt, die Beziehung mit der Person aufrechtzuerhalten, wie ich schon erwähnte: Diese Bemühungen, zu verstehen, sich anzupassen, immer wieder „einen Schritt“ auf den kranken Menschen zuzugehen, um ihn zu erreichen, da er nicht mehr dazu in der Lage ist … dies erfordert Zeit und Energie, psychisch wie psychisch.

Die Betreuer, mit denen wir in der Praxis zu tun haben, berichten uns vor allem davon, dass sie ständig Entscheidungen treffen müssen, für den kranken Angehörigen, an seiner Stelle, natürlich mit der Verantwortung für ihre Folgen. Diese Entscheidungen sind nicht immer offensichtlich („Lasse ich ihn machen oder greife ich ihn? Lasse ich ihm seine Autonomie oder beschütze ich ihn?“), sie tragen dazu bei, was man manchmal als Bürde des Pflegenden bezeichnet. 

Sie haben ein Buch geschrieben „Bien vivre auprès d'un proche atteint de la maladie d'Alzheimer“ - können Sie uns mehr darüber berichten?
Was hat Sie dazu bewogen, für die Pflegenden von Alzheimer-Patienten zu schreiben?

(auf Deutsch: Besser mit einem Angehörigen mit der Alzheimer-Krankheit leben)

Vor einigen Jahren arbeitete ich mit Faustine Viailly und Corine Ammar - Gerontopsychologinnen und Gerontopsychiaterinnen - in einem Tageszentrum für ältere Menschen mit leichten bis mittelschweren kognitiven Störungen. Mit unseren Patienten erlebten wir oft Situation, in denen wir, vereinfach gesagt, nicht wussten, was wir tun sollten! Ich spreche von jenen unbequemen und zweifelhaften Situationen, in denen man nicht sicher ist, wofür man sich entscheiden soll, da keine der Optionen wirklich zufriedenstellend ist. Uns fehlten die Instrumente, um diese Zweifel auszuräumen, die weder aus der Medizin noch aus der Psychologie oder aus unseren Ethik-Kodizes stammten.

Wir alle drei erwarben am Espace de Réflexion Éthique PACA-Corse das Hochschulzertifikat „Ethik und Alzheimer-Krankheit“. Und da haben wir einerseits erkannt, dass die Ethik sich auf das Unbehagen bezieht, dass man in diesen Situationen verspürt und andererseits vor allem, dass die auch die Mittel bereitstellt, um dieses Unbehagen zu lindern!

Als wir unsere Überlegungen nach dieser Ausbildung fortsetzen, stellten wir fest, dass die Familien, die wir im Tageszentrum kennenlernten, uns von denselben Schwierigkeiten berichteten, die wir auch hatten, dass sie dasselbe Gefühl von Unbehagen hatten in Bezug auf bestimmte Entscheidungen.

Wenn die Ethik uns Fachleuten diese Instrumente zur Bewältigung dieses Unbehagens an die Hand gibt, könnte sie dann nicht auch für pflegende Angehörige nützlich sein? Diese Idee motivierte uns zu unserem Schreibprojekt: Der Wunsch, diese und andere Instrumente zur Aufrechterhaltung der Verbindung, von der ich weiter oben sprach, zu teilen (z.B.: Wir wir unsere Art zu sprechen den Eigenheiten des Verständnisses der erkrankten Person anpassen können? Oder wie ich die Botschaften verstehen kann, die mein Angehöriger mir sendet wenn sie durch die Symptome "deformiert" wurden?). Und natürlich, denn wir wollten ein praktische Buch, haben wir alle Vorschläge mit konkreten Beispielen verbildlicht haben, denen die Familien und wir täglich begegnen.

editor_meta_bo_img_d0996549a37e4025c11df18126cd4ca3.jpg"Bien vivre auprès d’un proche atteint de la maladie d’Alzheimer", Benoît Michel, Corine Scemama-Ammar, Faustine Viailly, De Boeck Supérieur 

Welche Rolle spielt die Ethik bei der Begleitung von Personen mit der Alzheimer-Krankheit?

Man könnte auf die Idee kommen, dass die Ethik eine komplexe oder unzugängliche Sache ist, eine Angelegenheit für Philosophen, und dass sie auf jeden Fall nicht Praktisches oder Konkretes an sich hat. Ethik ist jedoch täglich in Situationen präsent, denen sich die Pflegenden, Angehörige oder Fachpersonal, mit kranken Menschen gegenübersehen.

Ich sprach vorhin über die schwere Last, die oft die Entscheidungen darstellen, die ein Pflegender den ganzen Tag über treffen muss. Wenn diese Entscheidungen so schwer wiegen, dann ist es oft so, dass es keine eindeutigen Antworten gibt:

„Mein Vater will rausgehen, um seine Zeitung zu kaufen, lasse ich ihn das tun?

– Ja, natürlich: Er muss frei und unabhängig bleiben! Und es ist wichtig, seine Gewohnheiten beizubehalten, ganz zu schweigen davon, dass es ihn zwingt, sich fertig zu machen, ein wenig zu laufen, und dass er Personen treffen wird, diskutiert … das wird ihm gut tun!

– Ja, aber gleichzeitig ist es auch gefährlich! Er könnte sich verirren oder stürzen oder einen Unfall haben oder sein Geld auf irgendeine Weise ausgeben. Es ist schön und gut, ihm seine Unabhängigkeit zu lassen, aber wenn er ihn einen Graben fallen sollte, hätte er nur noch die Freiheit, den Kältetod zu sterben!“

Solche Gedankenspiele hat man die ganze Zeit über, wenn man einem kranken Angehörigen hilft. Muss man der Autonomie, der Freiheit oder der Sicherheit Vorrang geben? Die Gewohnheiten und früheren Werte oder die aktuellen Wünsche respektieren? Muss man sie zwingen? Muss man sie machen lassen? Kann ich eine Behandlung auferlegen, die abgelehnt wird, weil nicht verstanden wird, dass sie zu seinem/ihrem Wohl ist?

All diese Situationen sind unangenehm, da es keine offensichtliche Antwort gibt. Aber, wie gesagt, dieses Unbehagen ist genau ethisch! Ohne es zu wissen, werden die Pflegenden mit ethischen Situationen konfrontiert.

Und die gute Nachricht ist, dass die Ethik nicht nur dieses unangenehme Gefühl des ich-weiß-nicht-was-ich-tun-soll ist: Sie bietet uns auch die Mittel, dieses Dilemma zu lösen! Vor allem lehrt sie dieses Prinzip, das ich wunderbar nützlich und erleichternd finde: Der Wert unserer Entscheidungen basiert nicht auf ihren Konsequenzen (wie man denken könnte), sondern auf der Art und Weise, wie man sie fällt. Eine „gute“ Wahl ist daher eine Wahl, die man „gut“ getroffen hat, und die Ethik bietet genau dafür die Mittel.

So sind einerseits die Ethik und ihre angebotenen Instrumente sehr konkret und andererseits sehr praktisch, da sie im Alltag „verwendbar“ sind!

Was können die Pflegenden tun, um auch auf sich achtzugeben?

Es gibt das familiäre und freundschaftliche Netzwerk, Vereine wie die Deutsche Alzheimer Gesellschaft und viele andere, die ebenso viele Möglichkeiten bieten, sich um sich selbst zu kümmern (z.B. Gesprächskreise) wie sich mit dem kranken Angehörigen um sich zu kümmern (z.B. angepasste Aktivitäten für zwei). Ganz zu schweigen von den üblichen Freizeitaktivitäten und Entspannungsmöglichkeiten - Kino, Sport, Meditation, etc.

Aber im Allgemeinen sind es nicht so sehr die Mittel, die den Pflegenden fehlen, um sich um sich selbst zu kümmern … es ist eher die Motivation.

Wenn man jemanden pflegt, kann man die Vorstellungen anregen, die verhindern, sich um sich selbst zu kümmern: Hindernisse in Verbindung mit Schuldgefühlen, die Zeit, von der man glaubt, sie nicht zu haben, die Angst, nicht verstanden zu werden, etc. Man redet sich ein, dass der andere krank ist und man daher Dinge auf sich nehmen muss, dies oder das zu opfern.

In Wirklichkeit sage ich oft den Pflegenden, die ich kennenlerne, dass das Wohlbefinden des kranken Angehörigen nicht auf Kosten des eigenen gehen kann, das ist nicht vertretbar. Einen kranken Angehörigen zu begleiten ist oft eher ein Ausdauer- als ein Schnelligkeitsrennen: Man muss unbedingt wissen, wann man sich schonen muss, um die Strecke zu schaffen.

Darüber hinaus ist der Zustand des kranken Verwandten teilweise durch den Zustand des Pflegenden bedingt: Wenn es dem Pflegenden nicht gut geht, geht es dem Kranken auch schlecht. Und da entsteht ein Teufelskreis: Dem kranken Angehörigen geht es noch schlechter, die Symptome sind stärker, also werde ich als Pflegender noch mehr gefordert, also bin ich müder, also werde ich weniger geduldig sein, weniger in der Lage, die Schwächen und Symptome zu ertragen, also wird seine Erregung zunehmen, was mich noch mehr erschöpft, etc.

Sei es für sich selbst oder, weil es sich positiv auf den kranken Angehörigen auswirkt, es ist nie verkehrt, sich um sich selbst zu kümmern!

Ein herzliches Dankeschön an Benoît Michel dafür, dass er seine Expertise mit uns auf Carenity geteilt hat!

Wenn Sie mehr über sein Buch erfahren möchten, können Sie hier die Webseite des Verlags besuchen oder es hier bestellen.

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Alles Gute! 


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Autor: Andrea Barcia, Gesundheitsredakteurin

Andrea ist spezialisiert auf das Betreuen von Online-Patienten-Communities und das Schreiben von Gesundheitsartikeln. Ihr besonderes Interesse gilt den Bereichen Neuropsychologie, Ernährung und Sport.

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