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Sterbehilfe: Was Patienten und ihre Angehörige wirklich wollen

Veröffentlicht am 21.08.2019 • Aktualisiert am 22.08.2019 • Von Louise Bollecker

Rund um die Sterbehilfe gibt es eine wichtige gesellschaftliche Debatte, die vor allem bei einigen Patienten mit schweren Erkrankungen Beachtung finden kann. Sollte die aktive Sterbehilfe erlaubt sein? Wie sieht es mit assistiertem Selbstmord oder indirekter Sterbehilfe aus? Wie sollte das Gesetz diese Praktiken regeln? Wir haben Carenity-Mitglieder in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und den USA gefragt: Mehr als 3.000 Mitglieder haben an unserer Umfrage teilgenommen!

Sterbehilfe: Was Patienten und ihre Angehörige wirklich wollen

In Deutschland ist aktive Sterbehilfe untersagt und andere Formen sind zugelassen

Die Sterbehilfe

Hinsichtlich der Sterbehilfe werden verschiedene Begriffe verwendet:

  • Die aktive Sterbehilfe ist das Töten eines anderen Menschen auf sein ausdrückliches Verlangen hin mithilfe einer tödlichen Substanz;
  • Die passive Sterbehilfe ist das Sterbenlassen durch Unterlassen oder Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen.

Wir haben unsere Mitglieder auch nach der indirekten Sterbehilfe und der assistierten Selbsttötung befragt. Die indirekte Sterbehilfe bezeichnet das Inkaufnehmen eines verfrühten Todes aufgrund einer schmerzlindernden Behandlung im Einverständnis mit dem Betroffenen.
Assistierter Suizid ist die Hilfe bei der Selbsttötung, beispielsweise durch das Bereitstellen eines Giftes, das der Suizident selbst zu sich nimmt. Diese Form der Sterbehilfe wird u.a. in der Schweiz praktiziert.

Der gesetzliche Hintergrund in Deutschland

Die aktive Sterbehilfe ist in Deutschland als Tötung auf Verlangen strafbar und wird mit Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis fünf Jahren geahndet.

Die passive Sterbehilfe durch Unterlassen oder Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen ist laut eines Urteils des Bundesgerichtshofs von 2010 in Deutschland erlaubt, wenn sie dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht. Der Patient kann sie in der Situation einfordern. Sie kann aber für den Fall der Nichteinwilligungsfähigkeit auch im Voraus schriftlich in einer Patientenverfügung verlangt werden.

Die indirekte Sterbehilfe ist in Deutschland zulässig. Der Bundesgerichtshof hat dies 1996 in einem Urteil festgehalten.

In Deutschland ist die Selbsttötung nicht strafbar, also auch die Beihilfe zur Selbsttötung (assistierter Suizid) vom Grundsatz her nicht. Ausnahme ist jedoch die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB).

Die Patientenverfügung

Treffen die Festlegungen einer Patientenverfügung auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation der Patientin oder des Patienten zu, sind sowohl die Ärztin oder der Arzt als auch die Vertreterin oder der Vertreter (Betreuer/in oder Bevollmächtigte/r) daran gebunden.

Liegt eine Verfügung vor, hat der behandelnde Arzt zunächst zu prüfen, welche ärztlichen Maßnahmen in Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten angezeigt sind. Dann haben er und der Betreuer oder der Bevollmächtigte diese Maßnahmen unter Berücksichtigung des Patientenwillens zu erörtern.

Das Gesetz geht nach Ansicht unserer Mitglieder nicht weit genug

Nur 10% der deutschen Teilnehmer unserer Umfrage sind der Meinung, dass das Gesetz in seiner jetzigen Form gut ist: 83% sind der Meinung, dass es den Rückgriff auf Sterbehilfe nur schwer zulässt. Die Carenity-Mitglieder in Deutschland befürworten weitgehend alle Formen der Sterbehilfe, sei es indirekte Sterbehilfe (90%), passive (86%) oder aktive Sterbehilfe (70%) oder Beihilfe zum Selbstmord (49%).

Zum Vergleich: Die Carenity-Mitglieder in den USA sind mit dem in ihrem Land geltenden Recht am zufriedensten (29%), aber es sollte berücksichtigt werden, dass es in den Vereinigten Staaten kein einheitliches Recht gibt: 10 von 50 Staaten erlauben die Beihilfe zum Selbstmord.

Die Mitglieder befürworten das Recht auf Sterbehilfe

Viele Situationen rechtfertigen den Zugang zu Sterbehilfe

Unerträglich zu leiden, eine Patientenverfügung mit dem Verweis auf Sterbehilfe ausgearbeitet zu haben, unheilbar erkrankt zu sein... Das sind Situationen, die nach Ansicht der Mitglieder von Carenity in Deutschland den Zugang zur Sterbehilfe rechtfertigen würden. Vor allem zwei Situationen betrafen Patienten und ihre Angehörigen:

  • Wenn der Patient unerträglich leidet (86%);
  • Wenn der Patient eine Patientenverfügung mit dem Hinweis auf Sterbehilfe hat (86%).

Dagegen halten nur 55% der Befragten die Tatsache, dass sich der Patient in einem irreversiblen vegetativen Zustand oder Koma befindet, für einen entscheidenden Faktor.

44% der Patienten haben bereits über Sterbehilfe nachgedacht

44% der Befragten in Deutschland haben bereits die Sterbehilfe aufgrund ihrer Krankheit in Betracht gezogen. Das ist weniger als in Frankreich (50%) und mehr als in Italien (34%). Doch die Mitglieder aller drei Länder teilen die gleiche Sorge: eine Last für ihre Angehörigen zu sein. Dies ist der Hauptgrund, warum Mitglieder Sterbehilfe in Betracht ziehen, gefolgt von der Unmöglichkeit, seinen Zustand zu verbessern, und einem zu großen körperlichen Leiden.

Eine leichte Mehrheit hat eine Patientenverfügung verfasst

Was ist eine Patientenverfügung?

Mit einer schriftlichen Patientenverfügung kann jede und jeder einwilligungsfähige Volljährige vorsorglich festlegen, dass bestimmte medizinische Maßnahmen durchzuführen oder zu unterlassen sind, falls sie infolge einer schweren Krankheit oder eines Unfalls nicht mehr selbst entscheiden können. Damit wird sichergestellt, dass der Patientenwille umgesetzt wird, auch wenn er in der aktuellen Situation nicht mehr geäußert werden kann.

Wer die letzten Entscheidungen am Lebensende trifft, wird allerdings nicht durch die Patientenverfügung, sondern durch einen in einer Vorsorgevollmacht eingesetzten Bevollmächtigten oder den gerichtlich befugten Betreuer bestimmt.

Es ist ratsam, eine Vertrauensperson oder Ihren Arzt auf die Existenz der Verfügung hinzuweisen und sie zu Ihrer medizinischen Akte hinzuzufügen, falls Sie eine haben.

Alle Informationen zur Patientenverfügung und Textbausteine finden Sie hier

Verschieden Fälle zeigen, welche Konflikte am Lebensende ohne Patientenverfügung entstehen können. Der Fall des Wachkoma-Patienten Vincent Lambert etwa beschäftigt die französische Öffentlichkeit und Justiz seit vielen Jahren. In diesem Fall lag keine Patientenverfügung vor. Während einige Mitglieder der Familie ihn am Leben erhalten wollten, lehnten andere - gemäß des mündlich geäußerten Willens des Patienten vor seinem Unfall - die lebensverlängernden Maßnahmen ab. Der Streit vor den französischen Gerichten hat viele Jahre gedauert. Anfang Juli 2019 beschließen die Ärzte ein weiteres Mal den Behandlungsstopp. Vincent Lambert stirbt am 11. Juli 2019

Das gleiche Problem gab es bei einem Fall aus Deutschland: Ein 82-jähriger Mann mit fortgeschrittener Demenz kann sich weder bewegen noch mitteilen und hat immer wieder Lungen- und Blasenentzündungen. Er wird auf Initiative des Hausarztes durch eine Magensonde ernährt und so gegen den Willen seines Sohnes künstlich am Leben erhalten. Nach dem Tod des Mannes 2011 verklagt der Sohn den Arzt auf Schmerzensgeld und Schadenersatz, aber der Bundesgerichtshof gibt dem Arzt Recht: “Der Patient hatte keine Patientenverfügung errichtet. Sein Wille hinsichtlich des Rückgriffs auf lebenserhaltende Maßnahmen ließ sich auch nicht anderweitig feststellen.”

Vielleicht sind es solche Fälle, die 75% unserer Mitglieder dazu veranlassen, eine verbindliche Vorschreibung der Verfügung zu wünschen.

Mit der Familie und Freunden darüber sprechen, die Reaktion der Mitglieder

Trotz des Beispiels der Familie Lambert verlassen sich unsere Befragten hauptsächlich auf ihre Angehörigen, um ihre Wünsche durchzusetzen. 53% von ihnen haben eine formelle Patientenverfügung verfasst.
Diejenigen, die keine Verfügung haben, nennen folgende Gründe:

  • Ich weiß nicht, wie man vorgehen muss (34%);
  • Ich habe bereits mit meinen Verwandten darüber gesprochen (27%);
  • Ich ziehe es vor, nicht an meine Lebensende zu denken (19%);
  • Mir ist die Patientenverfügung nicht bekannt (7%).

Die Mitglieder vertrauen also oft ihren Angehörigen und 68% haben das Thema bereits besprochen. 60% der Befragten haben sogar eine Vertrauensperson unter ihren Verwandten benannt: Bei 38% ist dies der Ehepartner. 30% haben eines ihrer Kinder benannt.

Die Meinung unserer Mitglieder, die gegen Sterbehilfe sind

Obwohl in der Minderheit, haben einige unserer Befragten ihre Ablehnung der Sterbehilfe zum Ausdruck gebracht. Moralische und religiöse Überzeugungen dominieren in ihren Antworten:

„Es ist Gottes Aufgabe, zu handeln.“

„Jede Form der Sterbehilfe, auch wenn der Patient es wünscht, ist Mord.“

„Das Leben ist ein Geschenk des Herrn, und es liegt allein an ihm, es wegzunehmen. Unsere Pflicht als Mensch ist es, unseren kranken Mitmenschen zu helfen, ihre Krankheit besser zu überwinden.“

„Solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung.“

Andere Mitglieder weisen jedoch darauf hin, dass sie trotz ihrer Überzeugung nicht gegen die Wahl anderer sind und die Entscheidung und das Leiden anderer respektieren. Je nach Alter des Patienten kann seine Meinung ebenfalls variieren. Schließlich bedauern viele, dass die Palliativmedizin nicht ausreichend in der Lage ist, den Schmerz des Patienten zu lindern und seine Angehörigen zu unterstützen.

Unsere Mitglieder haben ihre Meinung zu dieser schwierigen Situation geäußert, nehmen Sie an der Diskussion teil!

Umfrage, die im Juli und August 2019 unter 3.007 Carenity-Mitgliedern in Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien, Spanien und den USA durchgeführt wurde. Alle Mitglieder (Patienten und Angehörige) wurden zur Stellungnahme eingeladen.

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Autor: Louise Bollecker, Community Manager Frankreich

Louise ist Community Managerin von Carenity in Frankreich und Chefredakteurin des Gesundheitsmagazins. Sie bietet allen Mitgliedern Artikel, Videos und Erfahrungsberichte. Ihr Ziel ist es, die Stimme der Patienten zu... >> Mehr erfahren

6 Kommentare


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Abgemeldeter Nutzer
am 29.03.21

Ich bin dafür, bei sehr starken Schmerzen 

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