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Warum auf der Intensivstation der Wahnsinn lauert

Veröffentlicht am 29.05.2016 • Von Giovanni Mària

Warum auf der Intensivstation der Wahnsinn lauert

Warum auf der Intensivstation der Wahnsinn lauert

Intensivstationen sind kein Ort, an dem man sich wohlfühlt: Laut, hektisch, das Licht zu grell. Ausgerechnet dort, wo die Körper kranker Menschen so gut überwacht werden, gerät ihr Gehirn in Gefahr.

Als Melissa Akers die Augen aufschlug, konnte sie ihre Arme nicht bewegen und kein Wort hervorbringen. Menschen betraten den Raum, in dem sie lag. Sie sah ihre Gesichter und hörte sie sprechen. Aber die Menschen sprachen nicht mit ihr. Sie schienen sie gar nicht zu bemerken, und sie selbst konnte sich nicht bemerkbar machen.

Zwischen die Stimmen mischte sich ein Geräusch, das sie an Fahrstuhltüren denken ließ. "Ding-Ding", hörte Melissa Akers. Türen öffneten und schlossen sich, so kam es ihr vor. Ding-Ding. Ding-Ding. Hunderte Male am Tag. Ruhe, dachte Akers. Wenn bloß Ruhe wäre. Wenn bloß jemand ihre Arme lösen würde, die an das Bett geschnallt neben ihrem Oberkörper lagen. Wo war sie denn überhaupt? Wie war sie in diese Lage geraten, das fragte sie sich.

"Es war so irritierend und nervig, und ich konnte nichts tun, damit es endlich aufhörte." Melissa Akers lag auf einer Intensivstation, nach einer verschleppten Grippe hatte ihre Lunge versagt. Sie war im Vanderbilt-Krankenhaus in Nashville, Bundesstaat Tennessee, USA. Aber das wusste sie nicht mehr, schon gar nicht, wie sie dort hingekommen war. Die Ärzte hatten sie an das Bett geschnallt, zu ihrer eigenen Sicherheit. Einen Fahrstuhl gab es übrigens nicht in der Nähe des Raums, in dem sie lag. Melissa Akers, 49 Jahre alt, hatte ein Delirium.

Der Fall von Akers und ähnliche aus diesem Krankenhaus haben den Umgang mit Intensivpatienten verändert. Ärzte ihrer Klinik erkannten als erste weltweit, wie gefährlich dieser Zustand für Patienten ist. Nach den Forschungsergebnissen aus Nashville richten sich nun Ärzte auf der ganzen Welt, auch in Deutschland. Akers hatte auf der Intensivstation den Verstand verloren – so ergeht es jedem fünften Patienten während eines stationären Klinikaufenthalts.

Bei Patienten, die wie Akers auf einer Intensivstation künstlich beatmet werden, erleiden sogar 80 Prozent ein Delirium. Ausgerechnet dort, wo Schwerkranke gesund werden sollen, wird ihre Gesundheit weiter beschädigt. Auf den Stationen, die mit der teuersten Technik ausgestattet sind, in der Geräte jede Körperfunktion überwachen, gerät der Geist der Patienten in Gefahr.

Höhere Mortalität, kognitive Schäden

Patienten im Delirium sehen Dinge, die nicht da sind. Sie können sich nicht erinnern, wie sie in die Klinik geraten sind. Sie verstehen nicht mal mehr, dass sie in einer Klinik sind. Einige werden lethargisch, andere aggressiv. Und das ist keineswegs eine dieser lästigen, aber letztlich ungefährlichen Nebenwirkungen, wie sie ein Krankenhausaufenthalt eben mit sich bringt. Sondern ein äußerst gefährlicher Zustand, der das ganze Leben verändern kann.

Im Jahr nach der Entlassung aus dem Krankenhaus sterben Menschen, die ein Delirium hatten, häufiger. Sie haben weitaus schlechtere Aussichten, wieder ganz gesund zu werden. Vor allem ihr Gehirn bleibt oft dauerhaft geschädigt. Viele ältere Patienten können nicht mehr nach Hause entlassen werden – sondern nur noch in ein Pflegeheim.

Damit weniger Patienten in diesen bedrohlichen Zustand geraten, darf man sie nicht mehr mit Medikamenten ruhigstellen. Das wissen Ärzte und Pflegekräfte inzwischen. Aber es ist im Klinikalltag kaum umzusetzen – vor allem auf den Intensivstationen bisher nicht. Doch es gibt neue Modelle: Die Intensivstation der Zukunft wird erprobt.

Früher ging es auf der Intensivstation nur ums Überleben. Ärzte versetzten Patienten in einen künstlichen Tiefschlaf, damit diese nichts mitbekamen von den Dingen, die zu ihrer Rettung unternommen worden. Man machte die Patienten "pflegegeschmeidig". Das ist ein Begriff, den Pflegekräfte benutzten, wenn sie unter sich waren.

Inzwischen sind die Überlebenschancen für Patienten auf der Intensivstation deutlich besser. Aber man weiß nun, wie gefährlich es für das Gehirn ist, Menschen tagelang zu sedieren. Aber wenn Patienten wach sind, müssen sich Ärzte und Pfleger anders um sie kümmern. Sie müssen mit den Kranken sprechen, sie mobilisieren. Patienten, die nicht ruhiggestellt sind, brauchen außerdem ausreichend Schlaf – und auch mehr Privatsphäre. Nur so wird man verhindern können, dass massenhaft Patienten in geistige Verwirrung abdriften.

Wenn die Neurotransmitter aus der Balance geraten

Ärzte versuchen noch, genau zu verstehen, was mit dem Gehirn von Patienten wie Melissa Akers geschieht. "Das Delirium ist ein Organversagen", erklärt Rebecca von Haken, Anästhesistin an der Uniklinik in Heidelberg und eine der wenigen deutschen Experten für diese Verwirrtheit, die Ärzte häufig auch mit dem Begriff "Delir" bezeichnen. Man vermutet, dass die Neurotransmitter im Gehirn aus der Balance geraten.

Acetylcholin zum Beispiel steuert Prozesse, die mit der Funktion des Gedächtnisses zu tun haben. "Aus der Alzheimerforschung wissen wir um die Bedeutung dieses Botenstoffs", sagt von Haken. Es gebe Hinweise darauf, dass auch im Gehirn deliranter Patienten zu wenig Acetylcholin verfügbar ist.

Dass Patienten nach schweren Operationen mal ein bisschen verrückt spielen, ist lange bekannt. Besonders ernst genommen wurde es meist nicht. Ärzte und Pfleger gingen davon aus, dass der Zustand nicht von Dauer sei. "Durchgangssyndrom" nannte man es, wenn die Oma nach der Hüft-OP wirres Zeug redete. Sie wurde mit Medikamenten ruhiggestellt.

Bis der Intensivmediziner Wes Ely von der Vanderbilt Uniklinik in Tennessee begann, der Sache nachzugehen. Auf seiner Station wurde vor einigen Jahren auch Melissa Akers behandelt, die nach einem Lungenversagen ins Delirium fiel.

Warum starben so viele Menschen nach einem Aufenthalt auf der Intensivstation, fragte sich Wes Ely. Die Patienten waren doch mit den besten Geräten behandelt worden. Warum konnten sich Patienten, die geistig fit ins Krankenhaus gekommen waren, nach ihrer Entlassung nicht mehr selbst versorgen? Ely wollte wissen, was seine Kollegen und er falsch machten.

Quelle: welt.de (Artikel ist noch länger!)

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Autor: Giovanni Mària, International Traffic Manager

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2 Kommentare


Andrea
am 29.05.16

Warum auf der Intensivstation der Wahnsinn lauert

Intensivstationen sind kein Ort, an dem man sich wohlfühlt: Laut, hektisch, das Licht zu grell. Ausgerechnet dort, wo die Körper kranker Menschen so gut überwacht werden, gerät ihr Gehirn in Gefahr.

Als Melissa Akers die Augen aufschlug, konnte sie ihre Arme nicht bewegen und kein Wort hervorbringen. Menschen betraten den Raum, in dem sie lag. Sie sah ihre Gesichter und hörte sie sprechen. Aber die Menschen sprachen nicht mit ihr. Sie schienen sie gar nicht zu bemerken, und sie selbst konnte sich nicht bemerkbar machen.

Zwischen die Stimmen mischte sich ein Geräusch, das sie an Fahrstuhltüren denken ließ. "Ding-Ding", hörte Melissa Akers. Türen öffneten und schlossen sich, so kam es ihr vor. Ding-Ding. Ding-Ding. Hunderte Male am Tag. Ruhe, dachte Akers. Wenn bloß Ruhe wäre. Wenn bloß jemand ihre Arme lösen würde, die an das Bett geschnallt neben ihrem Oberkörper lagen. Wo war sie denn überhaupt? Wie war sie in diese Lage geraten, das fragte sie sich.

"Es war so irritierend und nervig, und ich konnte nichts tun, damit es endlich aufhörte." Melissa Akers lag auf einer Intensivstation, nach einer verschleppten Grippe hatte ihre Lunge versagt. Sie war im Vanderbilt-Krankenhaus in Nashville, Bundesstaat Tennessee, USA. Aber das wusste sie nicht mehr, schon gar nicht, wie sie dort hingekommen war. Die Ärzte hatten sie an das Bett geschnallt, zu ihrer eigenen Sicherheit. Einen Fahrstuhl gab es übrigens nicht in der Nähe des Raums, in dem sie lag. Melissa Akers, 49 Jahre alt, hatte ein Delirium.

Der Fall von Akers und ähnliche aus diesem Krankenhaus haben den Umgang mit Intensivpatienten verändert. Ärzte ihrer Klinik erkannten als erste weltweit, wie gefährlich dieser Zustand für Patienten ist. Nach den Forschungsergebnissen aus Nashville richten sich nun Ärzte auf der ganzen Welt, auch in Deutschland. Akers hatte auf der Intensivstation den Verstand verloren – so ergeht es jedem fünften Patienten während eines stationären Klinikaufenthalts.

Bei Patienten, die wie Akers auf einer Intensivstation künstlich beatmet werden, erleiden sogar 80 Prozent ein Delirium. Ausgerechnet dort, wo Schwerkranke gesund werden sollen, wird ihre Gesundheit weiter beschädigt. Auf den Stationen, die mit der teuersten Technik ausgestattet sind, in der Geräte jede Körperfunktion überwachen, gerät der Geist der Patienten in Gefahr.

Höhere Mortalität, kognitive Schäden

Patienten im Delirium sehen Dinge, die nicht da sind. Sie können sich nicht erinnern, wie sie in die Klinik geraten sind. Sie verstehen nicht mal mehr, dass sie in einer Klinik sind. Einige werden lethargisch, andere aggressiv. Und das ist keineswegs eine dieser lästigen, aber letztlich ungefährlichen Nebenwirkungen, wie sie ein Krankenhausaufenthalt eben mit sich bringt. Sondern ein äußerst gefährlicher Zustand, der das ganze Leben verändern kann.

Im Jahr nach der Entlassung aus dem Krankenhaus sterben Menschen, die ein Delirium hatten, häufiger. Sie haben weitaus schlechtere Aussichten, wieder ganz gesund zu werden. Vor allem ihr Gehirn bleibt oft dauerhaft geschädigt. Viele ältere Patienten können nicht mehr nach Hause entlassen werden – sondern nur noch in ein Pflegeheim.

Damit weniger Patienten in diesen bedrohlichen Zustand geraten, darf man sie nicht mehr mit Medikamenten ruhigstellen. Das wissen Ärzte und Pflegekräfte inzwischen. Aber es ist im Klinikalltag kaum umzusetzen – vor allem auf den Intensivstationen bisher nicht. Doch es gibt neue Modelle: Die Intensivstation der Zukunft wird erprobt.

Früher ging es auf der Intensivstation nur ums Überleben. Ärzte versetzten Patienten in einen künstlichen Tiefschlaf, damit diese nichts mitbekamen von den Dingen, die zu ihrer Rettung unternommen worden. Man machte die Patienten "pflegegeschmeidig". Das ist ein Begriff, den Pflegekräfte benutzten, wenn sie unter sich waren.

Inzwischen sind die Überlebenschancen für Patienten auf der Intensivstation deutlich besser. Aber man weiß nun, wie gefährlich es für das Gehirn ist, Menschen tagelang zu sedieren. Aber wenn Patienten wach sind, müssen sich Ärzte und Pfleger anders um sie kümmern. Sie müssen mit den Kranken sprechen, sie mobilisieren. Patienten, die nicht ruhiggestellt sind, brauchen außerdem ausreichend Schlaf – und auch mehr Privatsphäre. Nur so wird man verhindern können, dass massenhaft Patienten in geistige Verwirrung abdriften.

Wenn die Neurotransmitter aus der Balance geraten

Ärzte versuchen noch, genau zu verstehen, was mit dem Gehirn von Patienten wie Melissa Akers geschieht. "Das Delirium ist ein Organversagen", erklärt Rebecca von Haken, Anästhesistin an der Uniklinik in Heidelberg und eine der wenigen deutschen Experten für diese Verwirrtheit, die Ärzte häufig auch mit dem Begriff "Delir" bezeichnen. Man vermutet, dass die Neurotransmitter im Gehirn aus der Balance geraten.

Acetylcholin zum Beispiel steuert Prozesse, die mit der Funktion des Gedächtnisses zu tun haben. "Aus der Alzheimerforschung wissen wir um die Bedeutung dieses Botenstoffs", sagt von Haken. Es gebe Hinweise darauf, dass auch im Gehirn deliranter Patienten zu wenig Acetylcholin verfügbar ist.

Dass Patienten nach schweren Operationen mal ein bisschen verrückt spielen, ist lange bekannt. Besonders ernst genommen wurde es meist nicht. Ärzte und Pfleger gingen davon aus, dass der Zustand nicht von Dauer sei. "Durchgangssyndrom" nannte man es, wenn die Oma nach der Hüft-OP wirres Zeug redete. Sie wurde mit Medikamenten ruhiggestellt.

Bis der Intensivmediziner Wes Ely von der Vanderbilt Uniklinik in Tennessee begann, der Sache nachzugehen. Auf seiner Station wurde vor einigen Jahren auch Melissa Akers behandelt, die nach einem Lungenversagen ins Delirium fiel.

Warum starben so viele Menschen nach einem Aufenthalt auf der Intensivstation, fragte sich Wes Ely. Die Patienten waren doch mit den besten Geräten behandelt worden. Warum konnten sich Patienten, die geistig fit ins Krankenhaus gekommen waren, nach ihrer Entlassung nicht mehr selbst versorgen? Ely wollte wissen, was seine Kollegen und er falsch machten.

Quelle: welt.de (Artikel ist noch länger!)


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Abgemeldeter Nutzer
am 29.05.16

Sehr interessanter Artikel, den man aber unbedingt ganz lesen sollte.

Gruß

Verena

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