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Myasthenia gravis: „Ich bin nicht bereit, mir mein Leben deshalb selbst zu vermiesen.“

Veröffentlicht am 15.06.2022 • Von Bianca Jung

MiaAndMe, ein Mitglied der deutschen Carenity-Community, verspürte zwei Jahre nach der Geburt ihres jüngsten Kindes die ersten Symptome der Myasthenia gravis. Sie berichtet auf Carenity über die Diagnose und den Alltag mit dieser Erkrankung!

Lesen Sie gleich ihre Geschichte!


Myasthenia gravis: „Ich bin nicht bereit, mir mein Leben deshalb selbst zu vermiesen.“

Hallo MiaAndMe, Sie haben sich bereit erklärt, mit Carenity zu sprechen und dafür möchten wir Ihnen danken.

Könnten Sie uns zunächst etwas mehr über sich selbst erzählen?

Ich bin 45 Jahre alt, verheiratet, habe drei Kinder (20, 14, 8), und unseren Hund. Ich bin selbstständige Hebamme ohne Geburtshilfe und im ersten Beruf Krankenschwester. Warum das so ist, erzähle ich weiter unten. Ich lese und singe sehr gerne und bin eigentlich auch gerne aktiv (wandern, reisen), aber auf diesem Gebiet fühle ich mich z. Z. recht eingeschränkt.

Sie sind an Myasthenia gravis erkrankt. Könnten Sie uns sagen, was die ersten Anzeichen der Krankheit waren? Was hat Sie dazu veranlasst, einen Arzt aufzusuchen? Wie viele Ärzte haben Sie kennengelernt und welche Tests mussten durchgeführt werden?

Nach der Geburt des Jüngsten (ca. 2 Jahre danach, als ich ihn abgestillt habe) habe ich Sehprobleme bekommen, die ich mit verschiedenen Hilfsmitteln immer nur für kurze Zeit verbessern konnte: was ein - zwei Wochen funktionierte, war plötzlich wieder völlig unpassend. Noch ein Jahr später (2017) hatte ich nach dem Sport Schwierigkeiten, den Kopf zu halten und Dinge in Regale zu heben oder heraus zu nehmen. Da habe ich mich zunächst sehr geschont (was auch geholfen hat), habe aber beim nächsten Check-up (Ü35) meine Hausärztin darauf angesprochen. Wir arbeiten hier relativ eng zusammen, ich war damals noch als Krankenschwester Teilzeit in der multimodalen Schmerztherapie tätig. Zu diesem Team gehörte auch ein Neurologe, mein ärztlicher Kollege. Zu diesem überwies mich meine Hausärztin und er kam schon im ersten Kontakt zu dem Myasthenie-Verdacht und wies mich zur stationären Diagnostik ein. Dort wurde ich mit Mestinon eingestellt, was großartig half. Aber meine Tests waren immer alle nicht aussagekräftig (kein Dekrement) und keine Antikörper nachweisbar, daher bekam ich weder Prednisolon, noch Azathioprin. In einer Universitätsklinik wurde ich danach bis letztes Jahr sehr freundlich, aber mit wenig Mut zur Diagnose behandelt, auch wurden Termine oft abgesagt. Dort wurde ich zuerst mit Prednisolon, dann mit Azathioprin eingestellt. Dann kam der Vorschlag, in eine Myasthenie-Ambulanz zu gehen. Dort bin ich jetzt als Patientin angebunden. Die Termine (halbjährlich) sind mit einer Hotelübernachtung verbunden, anders schaffe ich es nicht, weil die Fahrtzeit (gut 3 Stunden) nicht zweimal an einem Tag für mich zu bewältigen ist. Aber das ist es wert: Die Fachkräfte dort betreuen viele Myasthenie-Patienten, haben viel Erfahrung und forschen selbst auf dem Gebiet. Das merkt man.

Wie haben Sie sich gefühlt, als Ihnen die Diagnose mitgeteilt wurde? Konnten Sie alle Informationen erhalten, die Sie brauchten, um die Erkrankung zu verstehen?

Vor ein Problem gestellt zu sein, dessen Namen und Tragweite ich nicht kenne, stresst mich sehr. Daher war die (Verdachts-)Diagnose zuerst eine Erleichterung für mich: Ich weiß, was ich beitragen kann und - zumindest theoretisch - wo meine Grenzen liegen. Das allerdings ist ein Lernprozess, der immer wieder durchlaufen werden muss, da bin ich erstaunlich erkenntnisresistent und laufe gerne mal wieder gegen eine Mauer…. Die Informationen waren sehr umfangreich. Warum ich mich erst jetzt bei der DMG (Deutsche Myasthenie Gesellschaft) angemeldet habe, kann ich nicht sagen. Das jedenfalls war nochmal ein sehr guter Schritt.

Welche Symptome treten bei Myasthenia gravis auf? Sind sie im Alltag behindernd?

Viele PatientInnen berichten über Doppelbilder, Sehschwächen oder ein hängendes Augenlid (Ptosis) bei Symptombeginn. Bei mir war es nur die Sehschwäche, eine Ptosis hatte ich nie. Eine Bekannte nannte es Krankheit mit tausend Gesichtern. Das trifft es ganz gut. Ich laufe mit 60% Akkuleistung, denke ich. Wo meine Leute noch laufen, sich hinsetzen, am Tisch sitzen können, mache ich irgendwann schlapp. Lässt die Mestinonwirkung nach, kann ich den Kopf nicht mehr hochhalten, den Körper nicht mehr aufrecht halten. Wenn es richtig schlimm läuft, spreche ich undeutlich, verschlucke mich beim Essen, stolpere über meine eigenen Füße. Wenn ich das Mestinon für ein (seltenes) Abend-Event, wie eine Hochzeit, bis in die Nacht einnehme, halte ich zwar noch etwas länger am Abend durch, bezahle aber mit mindestens zwei fiesen, kraftlosen Tagen dafür. Ich habe eine bestimmte Anzahl x an Treppenstufen pro Tag, die ich laufen kann. Wenn ich meine, die gleich am Morgen laufen zu müssen, ist am Mittag eben Schluss…. Zugfahren mit dem Hin- und Her-Ruckeln ist sehr anstrengend für die Haltemuskulatur im Nacken, auch ein Friseurbesuch kann mich so erschöpfen, dass der Tag für mich beendet ist. Wir haben ein Sofa mit großer Liegefläche angeschafft: Falls ich nicht mehr kann, ist noch Platz für die anderen Familienmitglieder bei mir :-)

Mussten Sie Ihre Lebensweise seit der Bekanntgabe der Diagnose Myasthenia gravis anpassen?

Absolut: Ich arbeite nicht mehr in der Klinik. Ich würde weder den Schichtdienst mit meinen Medikamenteneinnahmen organisieren können, noch könnte ich überhaupt z. B. Nachtschichten machen. Daher arbeite ich nur noch tagsüber und deshalb in meinem zweiten Beruf als Hebamme in der Vor- und Nachsorge. Meine Haare sind einer praktischen (sehr kurzen) Kurzhaarfrisur gewichen: Es ist einfacher für mich, sehr regelmäßig zum Friseur zu gehen und dafür morgens die Arme nicht minutenlang über Kopf halten zu müssen, um mich aufzurüschen. Im Alltag muss ich mich entscheiden (die Entscheidung trifft sich eher von selbst): Arbeite ich heute oder habe ich heute Freizeitaktivität? Ein Stadtbummel nach Feierabend ist nicht drin.

Wie sieht Ihre derzeitige Behandlung aus? Sind Sie damit zufrieden?

Im Moment nehme ich nüchtern morgens 5:00 Uhr 150mg Azathioprin und 90mg Mestinon, dann liege ich noch 30min damit das Mestinon wirkt, wenn ich aufstehe. Ab diesem Zeitpunkt nehme ich den Tag über alle dreieinhalb Stunden 90mg Mestinon. Bin ich damit zufrieden? Da ist diese Messlatte…..die hängt immer zu hoch ;-) Doch: insgesamt bin ich zufrieden. Mehr ist nicht rauszuholen und gesund werde ich im Moment nicht. So ist das nun mal. Jeder Mensch hat auf irgendeinem Gebiet eine Einschränkung, meine ist eben körperlich. Ich bin nicht bereit, mir mein Leben deshalb selbst zu vermiesen.

Wie wirkt sich die Erkrankung auf Ihr Privat- und Berufsleben aus?

Naturgemäß lässt es sich nur bedingt planen, wieviel ich an einem bestimmten Tag arbeiten werde: Die Babys kommen, wie sie kommen. An Tagen mit mehr als 5 Stunden Arbeit findet kein nennenswertes Privatleben mehr statt. Es geht nur entweder/oder. Ich versuche, eine Mittagspause zu machen, damit am Nachmittag und frühen Abend noch ein bißchen mit meiner Familie herumkommt. Je weiter der Tag fortschreitet, desto weniger Kraft habe ich. Hohe Temperaturen machen Aktivitäten schwierig: Die Medikamente sind temperaturempfindlich (sodass die Kühlung unterwegs immer funktionieren muss) und auch die Muskelschwäche ist deutlich ausgeprägter (bei mir), wenn es sehr warm ist. Was tun, wenn die Familie trotzdem in den Südurlaub möchte? Wir versuchen es mit Kompromissen: klimatisierte Wohnung z. B.

Fühlen Sie sich von Ihrem Umfeld unterstützt? Zeigen sie Verständnis in Bezug auf die Erkrankung?

Ja und Nein. Es ist schwer, sich in eine Person mit Muskelschwäche hineinzuversetzen. In einem Moment möchten wir ein normales Leben führen, im nächsten ist uns das unmöglich. Die Myasthenie ist ausgeprägter, wenn ein Infekt in den nächsten Tagen kommen wird(!) oder ich meine Regel bekomme. Ich muss mich unmissverständlich mitteilen, ohne ablehnend zu wirken. Das ist oft schwer. Auch der Versuch, auf mich Rücksicht zu nehmen, schießt manchmal über das Ziel hinaus: Niemand profitiert davon, wenn die ganze Familie auf einen Ausflug verzichtet (Ohne dich macht es keinen Spaß…), weil mein Akku leer ist. Das setzt mich unter Druck. Aber in meinem persönlichen Umfeld sind die meisten wirklich daran interessiert, die Erkrankung zu verstehen. Interessant ist, dass ich keinen GDB 50 (Grad der Behinderung, der einer Schwerbehinderung entspricht) bekommen habe, weil meine Muskelschwäche ja nicht ständig bestünde (Begründung der Ablehnung). Das finde ich unglaublich. Ich kann meinen Beruf nur in Teilen ausüben, bin in meiner Freizeit eingeschränkt, auf Hilfe im Haushalt angewiesen (hat jemand eine Idee davon, wie schwer Hausarbeit ist???). Wäre ich nicht so privilegiert mit einer sehr motivierten Familie und einem flexiblen Beruf, wäre ich sicher aufgeschmissen und da fehlt mir das Verständnis für die Ablehnung des GDB und eines Sonderkennzeichens. Im Zweifelsfall ist der/die Kranke auf diesen Support angewiesen.

Was halten Sie von Plattformen zum Austausch zwischen Patienten wie Carenity? Finden Sie dort den Rat und die Unterstützung, die Sie suchen?

Der Austausch zwischen Betroffenen ist durch nichts anderes ersetzbar. Wo hast du Hilfe erfahren? Welche Klinik bietet gute Reha-Möglichkeiten? Ich vertrage Medikamente nicht, wie hast du die Einstellungsphase erlebt? Dafür muss man aber auch etwas von sich mitteilen. Das erfordert Mut. Den habe ich auch nicht immer :-) 

Und schließlich: Was würden Sie Carenity-Mitgliedern raten, die ebenfalls an Myasthenia gravis erkrankt sind?

Verweilen Sie nicht so lange wie ich in Kliniken oder Ambulanzen mit kleinen Fallzahlen. Suchen Sie eine Myasthenie-Ambulanz, die sich ausschließlich mit Myasthenie-Patienten beschäftigt und nehmen Sie dafür lange Wege in Kauf: Es lohnt sich. Lieber im ersten Jahr fünf Hotelübernachtungen, als fünf Jahre unbefriedigende Therapie.

Ein letztes Wort?

Gesund oder nicht: Wir wollen Zufriedenheit im Leben erreichen und müssen jeder für sich selbst klar formulieren, was es dafür braucht. Ich persönlich brauche eine sichere Basis und kurzfristige, mittelfristige und langfristige Ziele, dann empfinde ich mein Leben als lebenswert. Heute möchte ich mit meiner Familie eine gute Zeit haben und meinen Job gut machen. Mittelfristig freue ich mich auf gut geplante Reisen. Langfristig möchte ich gute, sinnvolle Spuren im Leben meiner Mitmenschen hinterlassen. Das schaffe ich nur auf meiner Basis: Mein fester Glaube an Christus und seinen guten Plan für unser Leben.

Herzlichen Dank an MiaAndMe, dass sie ihre Geschichte mit Carenity geteilt hat! 

War diese Patientengeschichte hilfreich für Sie?    

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Alles Gute!



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Autor: Bianca Jung, Gesundheitsredakteurin

Bianca ist spezialisiert auf das Betreuen von Online-Patienten-Communities. Ihr besonderes Interesse gilt den Bereichen Psychologie, Frauengesundheit und Ernährung.

Bianca hat einen Bachelor in... >> Mehr erfahren

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